Unterwegs mit Heinrich Heuer
Fritz Kleibel (A) 2013, 49 min
In seiner Reihe „unterwegs mit …“ setzt Fritz Kleibel seine (Künstler)Protagonisten bewusst ausserhalb ihres gewohnten Umfelds in allgemein vertraute Umgebungen wie Verkehrsmittel, Museen oder Wirtshäuser. In diesen bekannten Situationen entwickelt er Künstlerporträts, die sich im Verlauf der Handlung immer mehr verdichten – und den/die Betrachter/in mitnehmen als wäre man selbst dabei. In „Unterwegs mit Heinrich Heuer“ ist diese Erfahrung besonders intensiv.
Gustav Schörghofer SJ
Vom Wunsch zu fliegen
Zum Tod des Graphikers Heinrich Heuer
Heinrich Heuer ist in der Nacht auf Sonntag, den 8. Jänner 2023, gestorben. Er hat ein stilles Leben geführt. Das Medium seiner Kunst war die Radierung. Jahrzehntelange Arbeit mit Kupfer haben ihn eine einzigartige Meisterschaft im Umgang mit diesem Material und seinen Möglichkeiten finden lassen. Das druckgraphische Werk von Heinrich Heuer zählt zu den bedeutendsten Schöpfungen österreichischer Kunst der letzten Jahrzehnte. Es lassen sich in ihm viele Beziehungen zur gleichzeitigen Malerei entdecken, zum abstrakten Expressionismus, zur Art brut oder zu Collagen mit vorgefundenem Material. Doch bewahrt die Kunst von Heinrich Heuer eine Eigenheit, die sie am ehesten vielleicht mit Dichtung vergleichbar macht. Die außerordentlichen gestalterischen Möglichkeiten dienten Heinrich Heuer zur Formfindung für ein Thema, „das sich bei mir von Arbeit zu Arbeit einfordert: die Gestaltung situativer Modelle (oder Szenen) des archaischen Gefühls, gefangen, eingeschränkt zu sein und nicht „fliegen“ zu können – und des skeptischen, aber erlösungshungrigen Aufbegehrens dagegen.“ (Heinrich Heuer, 80 Radierungen, 2003)
Heinrich Heuer wurde 1934 in Sophienhof (Pommern) geboren. Sein Vater war Pastor. Er selbst hat sich nicht als „kirchlichen Menschen“ verstanden. Er wurde in die Ostberliner Hochschule für angewandte Kunst aufgenommen, hat aber Berlin und die DDR bald verlassen. Von 1953 bis 1956 studierte er in Stuttgart bei Karl Rössing, von 1957 bis 1959 in Wien an der Akademie der bildenden Künste.
Seit 1959 war Heinrich Heuer mit der 1986 verstorbenen Künstlerin Christine Heuer verheiratet. In seiner Wohnung in der Kurrentgasse in Wien 1 hat es Heinrich Heuer nicht recht gehalten. Noch im hohen Alter ist er täglich mit dem Rad in sein Atelier gefahren. Vom großen Fenster des Ateliers in einem Gemeindebau konnte man in den Augarten und auf den mächtigen Flakturm schauen.
Die Arbeiten von Heinrich Heuer führen an ein Ende, das zugleich Anfang ist. Sie zeigen eine Folge von Explosionen, Brüchen, Ausbrüchen. Vom Wilden, Ungebärdigen, Elementaren einer Geburt ist das nicht weit entfernt.
So freundlich der Künstler selber ist, seine Kunst hat nichts Freundliches, Mildes. In ihr dominiert das Schwarz. Wenn Farben erscheinen, dann wie Glutnester im Schwarz, Wärme, die aus einer zerbrochenen Gestalt strömt. Warum kann das Betrachten dieser Blätter doch Freude machen? Weil in einem jeden von ihnen sichtbare Gestalt nicht als etwas Fertiges hingesetzt wird. Das Sinnvolle wird von Heinrich Heuer nicht einfach behauptet. Was normalerweise Sinn stiftet, all das Angenehme, Freundliche, Wiedererkennbare, Vertraute, – hier ist es nicht zu finden. Und wenn etwas vertraut erscheint, wird es bald zerfressen. Als würden Termiten über ein Holzhaus herfallen, oder Heuschrecken einfallen ins Blattwerk eines Baumes. Wie sich die Säure ins Metall frißt, so frißt sich eine zersetzende Kraft in die Formen.
Und dann zeigt sich auf einmal etwas Neues. Aus dem Untergang des Alten geht etwas hervor. Die Radierungen von Heinrich Heuer sind einer nicht enden wollenden Rettung von Schiffbrüchigen zu vergleichen. Heinrich Heuer geht in seiner Arbeit ein hohes Risiko ein. Er hält sich nicht an Gewonnenem fest. Einmal erobertes Gelände wird von ihm immer wieder preisgegeben. Den Betrachter nimmt er mit auf diese gewagte Fahrt. Nur so kann das Neue in den Blick kommen, die dem Scheitern abgerungene Gestalt.
Die letzten Monate von Heinrich Heuer waren von schwerer Krankheit gezeichnet. Auf meine Frage bei einem unserer kurzen Gespräche, ob er hinreichend Pflege habe, sagte er: Ja, mein Sohn schaut auf mich. Johannes Heuer wird auch auf das Werk seines Vaters schauen.
Nachruf für DIE FURCHE, Jänner 2023
Gustav Schörghofer, 1953 in Salzburg geboren, ist Jesuit und Priester. Er kuratiert Ausstellungen im JesuitenForum, in der Jesuitenkirche und der Konzilsgedächtniskirche, in der Zacherlfabrik und im Gewächshaus des Kardinal König Hauses. Er ist Leiter der Jury des Otto Mauer Preises.
Kristian Sotriffer
Metamorphosen des Vergänglich-Bleibenden
Das äußere Indiz für seine Andersartigkeit bilden seine auf Ordnung und Akkuratesse ausgerichteten formalen Eigenheiten, die das Dunkle, Schwere, Unheimliche, Bedrohliche sowohl technisch als auch gestalterisch sozusagen unter Kontrolle halten. Nichts ufert bei ihm beliebig oder expressiv aus, obwohl er sich der assoziativen, assimilierend-freilegenden Vorgangsweise und dem impulsiven „Arrangement“ seiner nach und nach entwickelten Vorstellungen nicht verschließt. Sie führen in immer wieder miteinander verwandten, emblemartigen Figurationen und zwingenden Entwicklungsvorgängen zu spezifischen Topoi. Heuer löst, was die seine Arbeiten prägenden Strukturen und Erscheinungen bestimmt, nach und nach aus einem Grund heraus, der einen doppelten Boden hat: Den einen Teil bestimmt das bevorzugte technische Verfahren – die Radierung – unter Ausnützung aller durch sie ermöglichten, schichtenweise entwickelten Feinheiten; der andere wird durch die mentale Verfassung des Künstlers bestimmt, aus der heraus Ur-Bilder freigelegt werden. Es versteht sich von selbst, dass sich seine Methode des Nach-Denkens nicht zufällig mit der Methodik der von ihm bevorzugten Technik deckt.
Die allem Leben auf der Erde vorhergegangenen geologischen Vorgänge, sagte Arthur Schopenhauer, seien „in gar keinem Bewusstsein dagewesen: nicht im eigenen, weil sie keines haben; nicht in einem fremden, weil keines da war. Also hätten sie aus Mangel an jedem Subjekt gar kein objektives Dasein, das heißt, sie waren überhaupt nicht, oder was bedeutet dann noch ihr Dagewesenes ?“ Der Künstler denkt darüber anders als der Philosoph. Ihr Dagewesenes ist für ihn eine Realität. Es sind unsere Ur-Schichten, von denen wir uns immer mehr zu entfernen scheinen. Sie werden überflutet durch das, was wir Kommunikation nennen und was in uns doch nur verschüttet, wovon unser kurzes Dasein zwischen Geborenwerden und Sterben geprägt wird. Was hinterlassen wir? Ein Skelett (oder den Abdruck, die Spur davon) und ein wenig Humus für die Nachgeborenen – nur Künstler und Heilige hinterlassen mehr.
Heuers Figurationen drängen in ihrer kennzeichnenden Durchmischung heraus aus versinterten Steingebirgen und den Ablagerungen alter Meere, vermengen sich mit den phantomartigen Erscheinungen des gegenwärtig Erfahrbaren, ergeben ein Amalgam aus Abgestorben-Lebendem und Lebend-Todgeweihtem. So entstehen Abbilder der Urseele alles Seins, deren Statisches sich mit den Zuckungen des in fortdauernder Metamorphose Befindlichen verbindet. In das Alte fügt sich das nachfolgend Geborene mitunter wie ein Fremdkörper ein.
Röntgenaufnahmen vergleichbar, wird der Blick freigelegt auf jenes Geschichtete, das aus einer Tiefe herauf führt und auf Strukturen stößt, die sein Organisches mitunter zu bedrohen, zu zersetzen, aufzulösen scheinen.
Es ist ganz ungewöhnlich und in mehrfacher Hinsicht nicht à la mode im Zeitalter der Schnell- und Großmalerei, der Tageskunst, der rasch wechselnden Reaktionen auf unsere Verworrenheiten, Bild-Vorstellungen zu erzeugen, die während eines langen Arbeitsprozesses auftreten und ausgebaut, entwickelt werden – ganz in der Art, wie Archäologen oder Paläontologen vorgehen, wenn sie einen Fund freilegen. Das Handwerk der Radierung, wie Heinrich Heuer es betreibt, fordert ein behutsames Aufarbeiten von Imaginationen heraus, die einander überlagern und durchdringen, verfilzen, und aus denen herausgefiltert werden muss, was einem bildnerischen Gedanken Form oder Struktur gibt und ihn dennoch nicht abtötet.
Heuers stupende technische Fähigkeiten bringen die Versuchung mit sich, das Prozesshafte des Hergangs einer Entwicklung in den Vordergrund zu stellen, Finessen auszuspielen, den Eigenwert des manipulativen Vorgangs zum Selbstzweck werden zu lassen. Er begegnet ihr dadurch, das er das souveräne Beherrschen der Mittel dazu benützt, einen Dialog mit dem Verschlossenen und sich Öffnenden zu führen, Sperren zu überwinden, Symbiosen erfahrbar werden zu lassen, eine Kartographie dessen zu entwerfen, was sowohl Stoffliches wie Organisches in einen Behälter zwingt, in dem etwas entstehen kann, wodurch Amorphes, Organisches der Natur mit dem Technoiden, Mechanischen in verhalten-dynamischen Konstellationen zur neuen „Mythe“ zusammengeführt wird. Heuer liefert mit den behelfsmäßigen Kennzeichnungen seiner Arbeiten Hinweise auf diesen Gedankenweg.
Der Fremdkörper, das Apparative, Traumatische und Bedrohliche, Phantomartige fügt sich in das in einem Abdruck (im doppelten Wortsinn) aufbewahrte Zerfallene oder als Fossil vor dem restlosen Verschwinden Bewahrte in Einsinterungen und Einbettungen. Es ist auch die Schönheit des durch sein Betrachten wieder ins Leben gerufenen Sterbenden, Abgestorbenen.
So zeigt sich der „Fremdkörper“ (1987), eingeschlossen in eine Masse, die durch einen wie bei versteinerten Naturformen üblichen Schnitt geöffnet erscheint, als eine Art Urfisch. Die gekörnte Struktur des auf diese Weise „aufgeklappten“ Körpers, der uns so fremd nicht anmuten will, vor den sich allerdings undefinierbare Formteile, bandartige Fragmente schieben – diese Oberfläche entspricht der technischen Vorgangsweise in ihrer Mischung aus einem der Platte eingebrannten Staubkorn aus Harzteilchen (Aquatinta) und der Zeichnung oder den konturbildenden Eingriffen. Dazu kommen weitere, dem Kenner der damit verbundenen Verfahren Bewunderung entlockende Methoden der Feinbehandlung einer Platte, die dem Druck eine ganz andere Qualität und auch Aura verleiht, als es etwa bei einer Zeichnung möglich wäre, auch wenn bei ihr mit Schattierungen und Lavierungen operiert wird. Heuer nimmt das Thema, den „Fremdkörper“, zwei Jahre später nochmals auf und arbeitet dabei auf größerem Format mit Kreide. Die Oberflächenwirkung, das Verhältnis zur Zeichnung, der präzise vorgedachten und wohlkomponierten Formteile zu lockeren, freieren Fügungen verändern sich. Wieder handelt es sich um ein einschlußartiges, von technoid gestalteten Formen eingegrenztes fischartiges Wesen. Erneut ist es die Begegnung mit dem erdgeschichtlich längst Vergangenen, mit den in Gebirge eingebetteten Vorgeschichten unseres eigenen Seins – herausgelöst vom Blick dessen, der es zu erforschen sucht. Es erzeugt in uns einen Keim der Neugierde und des Erkennens vom Zusammenhang der Dinge. „Keime“ nennt der Künstler jenes Blatt, in dem eine ähnliche Begegnung zwischen dem Puppen- und Larvenartigen eines Lebewesens mit einer aufgerasterten, technoid anmutenden Kapsel stattfindet. Der einen ovalen Form entspricht- aus der Erde entlassen – Leben, die andere birgt vielleicht die Erkenntnis über sein Gesetzmäßiges, über molekulare, zelluläre Zusammenhänge.
Diese Erkenntnis schlägt sich nieder in der Schrift, die ihrerseits aber erst enträtselt werden will wie jene zwar lesbaren, ihre Inhalte aber nicht freigebenden Zeichen, die uns aus verschiedenen Kulturen überliefert sind, in denen man offenbar auch direkter und unmittelbarer auf Sinnzusammenhänge zu treffen schien. Immer wieder sind es diese Vernetzungen, die den Künstler dazu anregen, Schichten aufzudecken und freizulegen, in die sich unsere Gedanken einsenken können. In denen sie einen „Anker“ werfen können, durch den jenes schmetterlingartige Gebilde festgehalten zu werden scheint, das vielfach als Symbol für die Verbindung zwischen verschiedenen Formen des Lebens und seiner Zyklen auch bei anderen Künstlern auftritt – bei Heuers verehrtem Stuttgarter Lehrer Karl Rössing zum Beispiel oder bei dem Friulaner Giuseppe Zigaina, wo es zum Synonym für die aus dem Toten geborene neue Existenz wird. Gilt der Falter nicht auch als besonders empfindliche und bedrohte Kreatur, als Indikator für ein intaktes Umfeld, für intakt gebliebene Lebensketten oder deren Abreißen?
In Form von Kapseln wird der Mensch in den Weltraum geschossen, um seinen Forschungsdrang auch im All austoben zu können. Schwerelos und in Raumanzügen wieder embryo- und puppengleich schwebt die Besatzung von „Gemini“ im Kosmos. Heuer bringt das Thema der Kapsel auch in diesem Zusammenhang ins Spiel, vergleicht seine engerlingartigen Zwillinge in der „Gemini“ betitelten Farbradierung mit der beengten Wirklichkeit des Raumfahrers, der sich inmitten einer Unendlichkeit bewegt und zugleich viel von dem mitführt, was ihm auf der Mutter-Erde Geborgenheit verleiht – aber auch den Drang, sich aus der Puppe zu befreien, zum Schmetterling zu werden oder zu einer Art Ikarus, dem die Technik, derer er sich zu bedienen gelernt hat, gelegentlich die Flügel verbrennt, ihn abstürzen und eingehen lässt in jene Materie, der er entstammt. Die „Sternzeichen“, wie sie der Künstler 1989 in einer Kreidezeichnung schemenartig skizziert hat und die wieder eine Ausfahrt ins Unbekannte begleiten, könnten so gedeutet werden. Deutlich wird die Diskrepanz, wie sie ein Künstler im Nachdenken über seine Position erfährt, in seinen Reflektionen dessen, was unser aus natürlichen Lebensweisen herausgekipptes Dasein bestimmt.
„High Tech“ hat vieles zum „Relikt“ werden lassen, was zuvor von Bedeutung war und es in verdeckterer Form immer noch ist. Das Resultat ist bei Heuer eine von blitzartigen Bewegungen bestimmte Szenerie mit ihren Megastrukturen, ihren Verdrahtungen oder Verkabelungen. Die über sie vermittelten, den Erdball umkreisenden Botschafien schütten uns zu und drohen uns abzunabeln vom Dagewesensein dessen, was unser Bewusstsein einmal formen sollte und eins wissen ließ mit allem, was gewachsen, gestorben ist und in Transmutationen weitergelebt hat. Heuers „Relikte“ könnten so verstanden werden: In sie eingebettet finden wir uns selbst, sie übersehend, könnten wir uns an „Systeme“ verlieren, die künstlicher Art sind und nicht mehr kontrolliert werden können.
Auszug aus einem Beitrag für die Kulturzeitschrift „morgen“ Nr. 67/89.
Kristian Sotriffer, 1932 in Bozen geboren, war Kunstkritiker, Lektor und Autor zahlreicher Bücher. Er ist 2002 in Wien gestorben.
Eigentlich wäre ich ja lieber Förster geworden …
Heinrich Heuer (HH) im Gespräch mit Georg Lebzelter (GL) und Philipp Maurer (PM) anläßlich seines achtzigsten Geburtstags 2014
GL: Deinen 80. Geburtstag nehmen wir gerne zum Anlass, mit dir über die Wurzeln deiner Arbeit, deine Jugend und Studentenzeit zu plaudern. Du hast erwähnt, dass du aus einem religiösen Haus kommst.
HH: Mein Vater war Pastor. Und ein Freund hat einen Film über mich mit dem Motto „Protestantisches Fegefeuer, gegrillt von Gewissen“ versehen. Ich weiß eigentlich nicht, was er damit gemeint hat. Ich bin ja kein kirchlicher Mensch. Aber gegen Kritiker und Betrachter ist man machtlos. Auch gegen dieses Gespräch kann ich nichts machen.
PM: Mit gewissem Stolz hast du mir einen Druck gezeigt, den du am Berg Athos, im Kloster Chilandar, von einer mehr als 200 Jahre alten Platte gedruckt hast.
HH: Das Drucken am Berg Athos war ein kleines Abenteuer, weil Kurt Zein, der vorher dort arbeiten sollte, keine Lust mehr hatte. Daher lud man 1979 und 1981 mich dorthin ein. Die Hauptarbeit war nicht das Drucken, sondern das Restaurieren der Kupferplatten. Die Mönche hatten nämlich entdeckt, dass irgendwann geätzte und gestochene Kupferplatten verkommen waren und teilweise zum Dichten der Dächer verwendet wurden, und suchten einen Drucker, der die oxidierten, verdreckten Platten voller Grünspan, die zum Teil aus dem 18. Jahrhundert stammten, drucken konnte.
GL: Wie kamen die Mönche auf Zein und dann auf dich?
HH: Ein Pater, quasi der Diplomat von Chilandar, ursprünglich ein serbischer Ingenieur mit Kontakten nach Wien, hat das eingefädelt. Er war ein netter, gastfreundlicher Mensch. Die Arbeit habe ich unentgeltlich gemacht, nur gegen Kost und Quartier. Mit dem Bruder Kellermeister hab ich mich gut verstanden, an manchem Abend haben wir uns getroffen – und da reimt sich was drauf! Die Druckerpresse kam aus Wien. Ich habe einen Abzug von zwei der Platten, die ich hergerichtet und gedruckt habe, hier in meiner Sammlung.
GL: Wenige Jahre später bist du als Kursleiter für Radierung im katholischen Kloster Geras in Niederösterreich aufgetaucht, wo ich dich kennengelernt habe.
HH: Man kann aber nicht sagen, dass ich mich mit den Mächten sehr eingelassen habe. Dafür, dass der Abt Angerer später Probleme hatte, kann ich sicher nichts.
PM: Du arbeitest heute ausschließlich als Radierer und in Kupfer. Wie kam es zu dieser Spezialisierung?
HH: Als Student habe ich natürlich, wie jeder Anfänger, mit Zink begonnen, aber dann hat mir das Kupfer viel mehr imponiert, weil es viel mehr aushält. Man kann in Zink rasant schnell eine Kaltnadel hinsetzen und bekommt auch einige gute Abzüge, aber ins Kupfer kann man viel intensiver hineinarbeiten und bekommt alles wieder heraus! Als ich in Wien bei Max Melcher studierte, hab ich immer ziemlich kleine Platten gemacht, weil ich ja kein Geld hatte. Eines Tages liegen plötzlich auf meinem Platz mehrere Platten. „Wo kommen die her“, hab ich Melcher gefragt, „ich kann das nicht zahlen.“ Und Melcher hat sich so herumgedrückt, so jaja, also mach was draus. Melcher hat auf seine Leute geschaut. Zwar hat er die Platten vermutlich nicht selbst bezahlt, denn es gab ein Klassenbudget, aber trotzdem! Er war ja noch Assistent und hatte gar keine Macht über das Budget!
PM: Wie bist du überhaupt darauf gekommen, Künstler und im besonderen Druckgraphiker zu werden?
HH: Ich wär viel lieber Förster geworden, aber damals in der DDR nach der Matura, für die du all das überflüssige Zeug auswendig gelernt hast – das ich Gott sei Dank alles wieder vergessen habe, bis auf den Teil, den ich gerne behalten und dann aufgestockt habe –, hätte ich drei Jahre als Waldarbeiter arbeiten müssen, um dann in die Forstakademie aufgenommen zu werden. Da ich ja ein Bub vom Land bin, kannte ich das Rübenverziehen und die Arbeit im Sumpf sehr genau; da dachte ich, nein, drei Jahre Bäume pflanzen, das brauch ich jetzt nimmer. Da mach ich lieber das, was ich auch noch kann: zeichnen. Auf den Rückseiten der Papierkorb-Papiere meines Vaters habe ich immer gezeichnet – Piraten, Seeräuber, germanische Ritter gegen römische Römer und so, alles auf gewiss banalem Niveau. Da bin ich vor der Matura in die nächste Stadt, nach Stralsund, gefahren, wo es ein Theater gab, und dort habe ich gefragt, ob ich nicht bei ihnen Bühnenbildner lernen könnte. Sie sagten, nein, das geht nicht, so einen haben wir schon, aber Bühnenmaler können Sie werden. Aber ich habe schon in der Schule einige Kulissen gemalt und wusste also, dass ich das wirklich nicht wollte. Darum hab ich mich an der Ostberliner Hochschule für angewandte Kunst beworben. Und bin überraschenderweise eingeladen worden, an den Examen teilzunehmen. Wir haben mehrere Tage in einer Baracke gewohnt und mussten jeden Tag eine Aufgabe lösen; vieles hab ich gar nicht zustande gebracht: ich konnte zum Beispiel keinen anständigen Kopf aus Ton formen. Als dann am Ende der Prüfung der holländische Direktor der Schule vor etwa 100 Leuten in der Aula eines ehemaligen Fabrikgebäudes die Namen der Aufgenommenen vorlas, kam meiner erst ganz am Schluss dran: „HH – aber er muss sich sehr anstrengen!“.
GL: Und Heinrich Heuer hat sich dann sehr angestrengt, oder?
HH: Ich hab versucht, alles zu tun, was ich konnte. Ich glaub, ich hab den Durchschnitt erreicht. Die Vorgaben fürs Zeichnen waren damals recht streng. Realistisches Abzeichnen, ein Wasserbecken mit Wasserhahn oder sowas. Ich hab mir aber was ganz anderes vorgestellt, denn ich war ja damals ein bekennender Sozialist. Ich wollte im Sinne meiner Helden Bert Brecht und Alfred Kantorowicz, der linken Schriftsteller und Journalisten, arbeiten. Aber der Assistent sagte, wer zeichnen will, muss alles können, nicht bloß einen Akt. „Jetzt zeichnen’s einmal einen Wasserhahn!“
PM: Aber du hast nicht in Berlin fertigstudiert?
HH: Natürlich nicht. Nach einem Semester sind wir dort weg. Ich als Kind vom Land, in der mächtigen, zertrümmerten Metropole Berlin, wo alles noch so ausgeschaut hat wie gleich nach dem Krieg, wo wir am Sonntag noch Steine putzen mussten – das hat nicht funktioniert. Wir haben uns gemeinsam aufgemacht, denn wir hatten alle ähnliche Ideale, waren gegen diese Plakatkunst, die sie damals erzeugt haben: mit den Fahnen und blöden heroischen Gesichtern und der simplen Menschheitsgeschichte drin. Aus dem Sozialismus ist ja ein kleinbürgerlicher Funktionärsstaat geworden, mit rigiden Vorgangsweisen. Unser Professor, Tombrock, war in den 20er Jahren ein Arbeitermaler und Exilfreund von Brecht. Durch ihn hab ich Brecht kennengelernt, er hat mir bei einer Theaterprobe sogar die Hand gedrückt. Und ich hab mich gewundert, dass Brecht, mein Idol, der damals schon sehr krank war, so ein weißes fleischiges Gesicht und eine weiße fettige Hand hatte – als Jugendlicher, noch dazu als old fashioned Jugendlicher, stellst du dir Ideale ja anders vor. Bei Alfred Kantorowicz waren wir auch, der war eher resigniert in dieser Scheiß-Gesellschaft, in der es keine Sozialisten und keine vom revolutionären Impuls Gedrängte mehr gab, sondern nur noch Verwalter.
Darum haben wir, fünf Kommilitonen, gemeinsam mit dem Professor Tombruck an die Kulturkommission des ZK der SED ein Pamphlet geschrieben, in dem wir sagten, dass wir dagegen sind, dass die Kunst sich zu so plakativen Gschichten entwickelt, und dass wir eine revolutionäre Kunst wollen. Aber als ich aus den Osterferien mit einem Rucksack voll Brot und Speck zurückkomme, finde ich an meiner Tür einen kleinen Zettel meines Kommilitonen, dass sie uns aus der Hochschule rausschmeißen wollen, und dass wir, damit wir wieder Kontakt zum Volk bekommen, ein paar Jahre in einer Schweinezuchtkolchose arbeiten sollten. Daher sei es besser, schrieb er, dass wir uns morgen in Westberlin treffen. Also hab ich meinen Rucksack gepackt, meine Mappe genommen, mich in die S-Bahn gesetzt und bin weg – das war auch damals schon nicht so einfach, denn man musste eine gute Ausrede haben für die Typen mit den Ledermänteln an den Bahnsteigen.
Aber ich hab mir nichts Gescheites eingepackt gehabt, nur Bücher, die van-Gogh-Briefe und so – ich hätte was zum Anziehen gebraucht. Aber ein Zurück war nicht mehr möglich. Das war 1953, vor dem 17. Juni.
Wir fünf trafen uns in Westberlin, wurden mit US-amerikanischen Militärflugzeugen nach Hannover geflogen. Es war wie im Krieg – das war mein erster Flug, den werd ich nie vergessen: vor mir ein riesiger geöffneter Speibbeutel. Mir ist aber nicht schlecht geworden.
Dann wurden wir mit Bussen in ein Flüchtlingslager, das eine ehemalige protestantische Behindertenanstalt war, gekarrt. Dort blieben wir drei oder vier Monate, mussten fest als Bauarbeiter und Maler arbeiten und vor dem Essen ordentlich beten, ob wir wollten oder nicht.
GL: Wann konntest du dann mit deinem Kunststudium weitermachen?
HH: Ich habe dann die Notaufnahme C, den BRD-Pass bekommen, DM 20.- und eine Fahrkarte an einen Ort nach unserer Wahl. Wir sind dorthin gefahren – ich weiß den Ortsnamen nicht mehr –, wo inzwischen unser Professor Tombrock einen Beinbruch auskurierte – wir waren noch anhänglich!
Aber dann wollte Professor Tombrock unseren Kommilitonen Peter Swoboda aus unserer Gruppe ausschließen. Swoboda war ein frecher Hund und mir in allen Belangen überlegen. Er kannte den ganzen Villon auswendig, war aufsässig und goschert. Wegen ihm bin ich nach Wien gekommen. Aber wir sagten, nein, wir können keinen ausschließen, wir fünf Studenten müssen in dieser feindlichen Umwelt zusammenhalten. Zum Glück meldete uns Tombrock, bevor er nach Schweden ging, alle an der Stuttgarter Akademie an. In der Zeit der Semesterferien haben wir allerlei Arbeiten angenommen am Straßenbau und anderen Baustellen, Künetten ausheben und so. Wir haben uns also nach Stuttgart durchgeschlagen, und sie haben uns in Stuttgart genommen. Ich bin zu Prof. Karl Rössing gekommen.
GL: Du hast Dir Professor Rössing als Lehrer ausgesucht? Das war ja eine Druckgraphik-Klasse.
HH: Ich wusste vorher gar nicht, dass es ihn gab. Ja, es war eine Druckgraphik-Klasse, Rössing war Linolschneider und arbeitete mehrfarbig in Clair-obscur. Linolschnitt war bei Rössing quasi der Hausbrauch.
PM: War das nicht ein bissel eine epigonale Schule bei Rössing?
HH: Rössing war eine starke Person. Und wir waren jung. Man muss irgendwie anfangen, man muss sogar mehrfach anfangen. Es hat einige unter meinen Klassenkameraden gegeben, zum Beispiel Bernd Becher. Wir saßen nebeneinander und haben uns sehr gut verstanden. Ich habe Becher einmal in den Ferien in Siegen besucht. Er hat mir später ein paar von seinen frühen Fotos aus den 60er Jahren geschenkt. Außerdem waren da noch Schöllkopf, Förch, Rabe, Willberg, Meckseper und andere.
Rössing und ich waren später befreundet, er hat mich als Lehrer sehr beeinflusst. Rückblickend bemerke ich, wie viel ich von meinem Vater, zu dem ich ein kontroverses Verhältnis hatte, und von Rössing gelernt habe. Deshalb war ich schon als Druckgraphiker vorgeprägt, als ich an die Akademie in Wien zu Prof. Max Melcher gekommen bin. Und diese Prägung hat mich gehindert, die Freiheit, die mir Melcher geben hätte können, auszuleben.
GL: Wann hast du mit dem Radieren begonnen?
HH: Ich hab in Stuttgart mit Radierungen, die in der Nähe der Kollwitz waren, angefangen. Das Radieren hab ich von einem alten Drucker an der Akademie gelernt. Man hat uns nur die Hochdrucke vom Holz und Linol selbst drucken lassen.
GL: Deine frühen Radierungen haben einen starken Bezug zur Ästhetik des Linol- und Holzschnitts. Als ich im Kunsthistorischen Museum auf der Freyung eine Ausstellung von Rössing gesehen habe, konnte ich mir eine Verbindung schaffen zwischen deinen frühen Radierungen und Rössing.
HH: Rössing hat mich thematisch stark beeinflusst.
PM: Musstest du neben deinem Studium immer arbeiten?
HH: Ja, ich hab immer arbeiten müssen, ich war Maurer, Hilfsarbeiter, Nachtwächter, Nachtportier, ich war Platzanweiser im Bali-Kino – Bali heißt Bahnhof-Lichtspiele!, wo die fadisierten Zugler auf den nächsten Zug gewartet haben –, bis 3 Uhr in der Früh, und hab 1 ¼ Stunden heimhatschen müssen zu meiner Bude. In einer Buchhandlung hab ich ein Buch von Odilon Redon gefunden – damals war ich sehr inspiriert davon, heute kenne ich leider schon so viele schlechte Bilder von Redon – und, von Rössing und Redon beeinflusst, ging ich immer weiter weg von dem, was man Sozialistischen Realismus genannt hat.
Nach einem Semester hab ich Christine, meine spätere Frau, in der Klasse kennengelernt.
PM: Warum bist du dann aus Stuttgart weg und ausgerechnet nach Wien?
HH: Zu der Zeit dachte ich, ich muss irgendwo anders hin, aber leider kann ich außer meinem Pidgin-Russisch und meinem Pidgin-Englisch keine andere Sprache, also konnte ich nur dort hin, wo man deutsch spricht. In Wien lebte schon mein Freund Swoboda, also bin ich im Jahr 1957 gekommen. Christine war damals in Düsseldorf und mit Wolf Vostell befreundet.
In Deutschland hab ich mich nie so wohlgefühlt, denn da ich ein entlaufener DDRler war, haben sie mich immer für einen Kummerl gehalten. Nur weil ich meine Grundüberzeugung nie verleugnet hatte, die überhaupt nicht zu diesem Staatskommunismus passte, sondern immer nur zu einem Idealkommunismus.
Hier in Österreich bin ich so nett empfangen worden, alle waren nett zu mir, seither bin ich da. Ich bin in Hitlerdeutschland geboren, dann Sowjetische Besatzungszone, dann DDR, dann Westdeutschland – ich hab von Deutschland vier Ausweise gehabt. Ich hab die Nase voll gehabt. Dann war auch diese Ost-West-Gegnerschaft – da dachte ich, nun komm ich in ein Land, klein, unauffällig im politischen Umraum, mit einer gewissen Tradition. Am liebsten wäre ich staatenlos gewesen.
PM: Heute bist du Österreicher?
HH: Ich hab 1959 Christine geheiratet, und als mein Bub auf die Welt kam, sind wir Österreicher geworden, weil er eine Staatsbürgerschaft gebraucht hat. Vorher hab ich alle halbe Jahr antanzen müssen bei der Fremdenpolizei, am Seipelplatz bei der Jesuitenkirche, und hab meinen Stempel abholen müssen.
Ich landete in Wien in der Martin-Klasse. Prof. Martin war künstlerisch eine fade Type, aber ich bin zu ihm, weil er die Graphikklasse-Meisterschule leitete. Er kam aus der Schmutzer-Partie, und weil er in der Nazizeit unbescholten war, hat er die Professur bekommen. Einmal habe ich ein Litho-Plakat für eine Ausstellung von ihm gedruckt, ein bissel im Stil von Otto Runge – so blade Babies, die den Sonnenaufgang bewundern. Max Melcher war schon Assistent in der Klasse, und er war in der Werkstatt der einzige, der Einfluss ausgeübt hat.
Melcher war immer gut zu mir, auch als er dann Professor geworden war. In der Jahresausstellung hab ich den Meisterschulpreis bekommen. Allerdings war ich der Meinung, mir wäre der Füger-Preis zugestanden. Da hat Melcher zu mir gesagt, bist deppert, der Füger-Preis ist eine Medaille, aber ich hab dafür gesorgt, dass du den Meisterschulpreis kriegst, da kriegst nämlich 500 Schilling! Um 500 Schilling konnte man ganz gut leben, aber das Untermietzimmer hat schon 300 Schilling gekostet.
GL: Vom Linol- und Holzschneiden bei Rössing hast du dich emanzipiert. Mich würde dieser Schritt vom Linol zum Kupfer interessieren. Hat das auch etwas mit dem Ortswechsel zu tun?
HH: Damals war ich schon Druckgraphiker, ich wollte unbedingt ätzen und die vielen Möglichkeiten nutzen. Melcher hat mich mit Kupfer gefördert und hat mich machen lassen, was ich wollte. Unsere Klasse war ein Studio, ein Studium lebt ja davon, dass man zusammen arbeitet. Mit mir waren Kurt Amann, Ingerl, Krupbauer. In der Klasse war nicht viel los, Ingerl hat ja ganz was anderes gemacht, der Aspetsberger, der Germanist geworden ist, war dabei, damals hat er noch Maler werden wollen, seine Frau Inge Vavra war eine gute, die hat nie studiert, sondern ihn nur besucht.
PM: Damals warst du schon ganz auf die Radierung konzentriert. Hast du schon während des Studiums deine charakteristische Bildsprache entwickelt?
HH: Ich hab mich in den späteren Jahren schon sehr entwickelt. Wenn ich heute im MUSA die Sachen sehe, die ich früher gemacht habe – ich würd was geben, wenn ich das nicht gemacht hätte.
PM: In der MUSA-Ausstellung „Kunst der 70er Jahre“ hing eine hochinteressante Arbeit, die ich nicht als Heuer eingeschätzt hätte.
HH: Ich tät’s heute wegschmeißen. Ich hab eine nahezu ähnliche Radierung gehabt. Auch in der Ausstellung mit Kunst aus den 50er Jahren war was von mir drin, das war das erste, das die Gemeinde Wien von mir gekauft hat, ein Motiv aus dem Alten Testament, wo es räuberisch zugeht und das man wie einen Krimi lesen kann. Ich möchte das alles nicht gemacht haben! Aber es nimmt einem keiner was zurück!
Aber dann bleibt man bei sich, bei seinem Bohrloch, es entstehen immer im Requisitenraum Dinge, die sich dann in den Vordergrund drängen. Irgendwann hat man mich für gegenständlich gehalten, obwohl ich der Meinung bin, dass alles, was ich gemacht habe, zumindest nicht gegenständlich ist, sondern assoziativ zu Gegenständen und zu den eigenen Gedanken, die man beim Arbeiten hat.
PM: Die du auch in den oftmals seltsam anmutenden Titeln zusammenfasst.
HH: Die Titel hätt ich am liebsten überhaupt nie gemacht, aber man braucht sie, um die Sachen einzuordnen. Ich versuche immer, ganz kurze schlüssige Titel zu finden, die die Assoziationsmöglichkeiten nicht verbarrikadieren, blockieren.
PM: Die Titel sind also nicht direkt mit den Arbeiten verbunden, erklären sich nicht aus ihnen?
HH: Nein, sie sind nachgetragen, um die Arbeiten einordenbar zu machen. Sie haben schon einen Bezug, aber mitunter einen solchen, der eine kleine Falle stellt.
PM: Ich hab schon den Verdacht, dass du nach Fertigstellung der Arbeit weiterassoziierst, und das letzte Glied dieser Assoziationskette wird dann der Titel.
HH: Das wäre ja ein Fazit, und das ist es sicher nicht. Die Sache ist längst fertig, auch gedruckt, und mein einziges Archiv sind meine Ätzbücher, da zeichne ich hinein. Ganz am Schluss kommt der Titel, mitunter fällt er mir gleich ein – in dem Sinne: „das beschreibt es nicht“.
GL: Gibt es, bevor es auf die Platte geht, Kompositionsskizzen?
HH: Zuerst gibt es eine fatamorganatische Vision: So hätt ich es gerne. Dann fang ich an herumzukritzeln. Die Zeichnung ist der Ausgangspunkt, die formalisierte Halluzination.
GL: Wenn du Skizzen machst, ist da für die mehrfarbigen Radierungen viel an Planung, viel Kalkulieren vorab notwendig?
HH: Nein, gelegentlich kommt das vor, aber doch seltener. Ich mach jetzt auch weniger Farbradierungen, die sind doch viel zu schön geworden. Aber: ich habe eine Skizze, ich arbeite auf die Platte, nun beginnend im Aussprengfahren, mache einen Probedruck, vergleiche es mit der Initialzeichnung, ändere es, zeichne weiter auf der Platte, und nachdem ich sowas von überhaupt nicht spontan bin in meiner Arbeit, sondern eher ein bissel grüblerisch, entsteht meine Druckgraphik typisch gärtnerisch: ein bissel kupieren, ein bissel wachsen lassen.
GL: Man nimmt sich als Druckgraphiker lange Zeit, das Blümchen wachsen zu lassen.
HH: Es gibt immer viele Zwischenstadien. Wie im Garten weiß man in der Druckgraphik nie genau, was der Gärtner / Künstler tut und was die Natur / das Material von selbst leistet. Als Gärtner kann man nur eingreifen, zurückschneiden, auswählen, gießen und hoffen. Auch in der Druckgraphik gibt es zwischen der Produktion und dem Erscheinen des endgültigen Ergebnisses die Phase des Glaubens und des Vertrauens. Erst nach dieser Phase kann man die druckgraphischen Enttäuschungen und noch viel mehr die künstlerischen Glücksmomente erleben.
PM: Sind diese Erfahrungen für den Betrachter deiner Druckgraphik nachvollziehbar?
HH: Ich bin überzeugt davon, dass diese Erlebnisse in der Arbeit selbst, am bedruckten Blatt Papier, erlebbar und nachvollziehbar sind. Die Druckgraphik zeichnet sich dadurch aus, etwas anders zeigen zu wollen und anders auszuschauen als Malerei oder Zeichnung. Sie ist einfach Obsession und das ist für den Betrachter lesbar!
PM: Wir danken für das Gespräch und wünschen zum Geburtstag alles Gute! Ad multos annos.